Narzissmus & Alltagsdiagnosen

6. Dezember 2020

Im heutigen Artikel wollen wir das Thema Narzissmus einmal etwas näher betrachten. Dabei schauen wir, wie Narzissmus definiert ist, was Alltagsdiagnosen für uns bedeuten, wie Alltagsdiagnosen wirken, wie wir diese nutzen und was bei Psychischen Störungen immer häufiger vergessen und vernachlässigt wird.

Was ist Narzissmus?

Zunächst einmal können wir unterscheiden zwischen der tatsächlichen narzisstischen Persönlichkeitsstörung und dem umgangssprachlichen Gebrauch des Begriffes „Narzisst“.

Umgangssprachlich versteht man unter einem „Narzissten“ einen Menschen, welcher ausgeprägten Egoismus, Arroganz und Selbstsüchtigkeit an den Tag legt und sich anderen gegenüber rücksichtslos verhält. Vielleicht hast du diese Alltagsdiagnose selbst schon einmal benutzt und einen deiner Bekannten, Kollegen oder deinen Chef so bezeichnet.

Was ist die Narzisstische Persönlichkeitsstörung

Eine Persönlichkeitsstörung mit mindestens 5 der folgenden 9 Merkmale:

Größengefühl; Phantasien über unbegrenzten Erfolg, Macht, Schönheit oder ideale Liebe; Gefühl der Einmaligkeit; Bedürfnis nach übermäßiger Bewunderung; unbegründete Anspruchshaltung; Ausnützung von zwischenmenschlichen Beziehungen; Mangel an Empathie; Neidgefühle oder Überzeugung, beneidet zu werden; arrogantes, hochmütiges Verhalten. (Quelle: ICD-10)

Wer darf eigentlich Diagnosen stellen?

Diagnosen werden von ausgebildeten Fachleuten gestellt. D.h. es dürfen Ärzte, Psychiater, Psychotherapeuten und Heilpraktiker für Psychotherapie eine Diagnose stellen, da diese Personen eine entsprechende Ausbildung genossen haben und über die notwendige Fachexpertise und gesetzliche Erlaubnis hierzu verfügen.

Alltagsdiagnosen

Im Alltag neigen wir nun aber häufig dazu, zu kleinen Psychotherapeuten und Psychiatern zu mutieren und bedienen uns schnell bei Begriffen der Psychologischen Diagnostik, um uns das Verhalten unserer Mitmenschen zu erklären.

Der Chef, welcher uns schlecht behandelt, wird kurzerhand zum Narzissten erklärt. Dem Kollegen, der heute einen schlechten Tag hat, wird eine Depression attestiert und der Kollegin, die nicht alle Akten bis zum Ender der Woche abgearbeitet hat, wird Burn-Out bescheinigt.

Wunderbar, wir können uns das Verhalten unserer Mitmenschen binnen weniger Sekunden besser erklären und diese in die entsprechenden Schubladen stecken.

So werden Alltagsdiagnosen häufig verwendet

Die Verwendung unserer Alltagsdiagnosen, ist die für mich spannendste Frage. Was machen wir, wenn wir jemandem gegenüber in unserer geistigen Welt eine Diagnose ausgestellt haben.

Gerade der Begriff des „Narzissten“ wird häufig im beruflichen Kontext oder in Liebesbeziehungen verwendet. Dabei stellt sich mir die Frage des Motivs. Warum möchte ich eine andere Person diagnostizieren, im speziellen feststellen, ob Er oder Sie ein Narzisst ist?

Häufig spielt im Kontext dieser Alltagsdiagnose Schmerz eine Rolle. Wir fühlen uns gekränkt, verletzt, gedemütigt, ausgenutzt, nicht wertgeschätzt. Wir empfinden das Verhalten der anderen Person als unfair und ungerecht und suchen womöglich nach einer Erklärung die zeitgleich unsere „Wertigkeit“ wieder rehabilitiert. Der Begriff „Narzisst“ ist in unserem Sprachgebrauch sehr negativ behaftet. Wenn wir also jemanden als „Narzissten“ bezeichnen, verpassen wir ihm oder ihr nicht nur eine Diagnose, sondern machen auch noch eine Schuldzuweisung und eine Herabwürdigung. Häufig mit dem Ziel, dass es uns besser geht und wir uns wieder besser fühlen, schließlich sind wir jetzt die guten.

Die Frage, welche wir uns in diesem Zusammenhang aber so gut wie nie stellen, obwohl sie eigentlich auf der Hand liegt, ist doch die folgende:

„Warum toleriere ich dieses Verhalten oder lasse mich auf eine Art- und Weise behandeln, die mir nicht gefällt?“

Gerade im Kontext von Liebesbeziehungen wo eine der Parteien als „Narzisst“ klassifiziert wird, ist das Verhalten ja nicht bloß kurzweilig, sondern hat über einen längeren Zeitraum stattgefunden. Für mich ist es an dieser Stelle also wenig Zielführend, der anderen Person eine Diagnose angedeihen zu lassen. Viel gewinnbringender ist es doch, wenn wir für uns die Frage klären, warum wir unerwünschtes Verhalten tolerieren? Da können wir alle mal drüber nachdenken.

Der Umgang mit Alltagsdiagnosen

Da viele der von uns verwendeten Begriffe in unseren Alltagsdiagnosen aus dem Bereich der  Psychischen Störungen kommen, sollte man doch meinen können, dass wir diese „Krankheiten“ anerkennen und mit besonderer Rücksicht, Mitgefühl, Unterstützung und Empathie darauf reagieren. So würden ja auch die meisten von uns reagieren, wenn jemand eine Diagnose wie Krebs, Multiple Sklerose (MS) oder einen Herzinfarkt diagnostiziert bekommt.

Bei Themen wie Narzissmus oder Burn-Out beobachte ich allerdings das genaue Gegenteil. Es wird völlig vergessen, dass die Person ein „Leiden“ hat, welches sie nicht aktiv steuert. Die Alltagsdiagnose wird als Kränkung und Herabwürdigung genutzt, um das persönliche Wohlbefinden wieder aufzupolieren und Schuldzuweisungen zu machen.

Hinter verschlossenen Türen kann man dann verschiedene Diffamierungen über die betroffene Person hören:

„Er oder Sie sollen sich doch nicht so anstellen“

„Der Arsch ist so egoistisch und selbstsüchtig“

„Der hat ja nur kein Bock zu arbeiten“

„Die weiß doch gar nicht was richtiges Arbeiten ist, sonst würde sie sich nicht so anstellen“

Um einmal ein paar, persönlich erlebte Aussagen wiederzugeben.

Fazit

Die beschriebenen Beobachtungen halte ich für sehr bedenklich und alarmierend. In einer Welt, wo psychische Erkrankungen immer weiter zunehmen, wo wir durch unsere Leistungsgetriebenheit immer mehr an Empathie, Mitgefühl und Rücksichtnahme einbüßen, sollten wir uns einmal persönlich die Frage stellen, wie wir persönlich diese Alltagsdiagnosen handhaben. Jeder einzelne und einzelne von uns kann dazu beitragen, sich selbst und andere zu sensibilisieren und für einen besseren Umgang miteinander sorgen.

Wir täten aus meiner Sicht gut daran, diese Themen nicht zu tabuisieren, sondern offen anzusprechen. Ein erster Schritt könnte sein, die Schuld-Fragen vom Tisch zu nehmen und ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass niemand sich so etwas freiwillig aussucht und jeder betroffen sein könnte.

Wir können bei uns selbst prüfen, ob- und wie wir Alltagsdiagnosen einsetzen. Wollen wir diese nutzen, um ein besseres Verständnis für unser Gegenüber zu bekommen, um dann mit mehr Empathie und Mitgefühl auf die Person eingehen zu können oder doch um die Person zu diffamieren und uns ggf. über sie zu stellen?

Herzliche Grüße

Euer Pierre

Das Thema habe ich außerdem im Video behandelt

Über den Autor

Pierre Alexander Hilbig

Pierre Alexander Hilbing

Seit 2017 bin ich als selbstständiger Coach tätig und darf tagtäglich zu günstigen Wendungen und nachhaltigen Lösungen in herausfordernden Situationen beitragen, sowie Vorträge und Trainings als Dozent geben.